Essay (2016)

Wasser – das Universum 
ist voll davon. Aber nur
 die Erde hat sich in einen blauen Planeten verwandelt. Wasser ist Quelle des Lebens, aber auch seine ständige Bedrohung.

Oh mein Gott, schaut euch das an!“, entfuhr es Bill Anders Heiligabend 1968. Denn als er aus dem Fenster schaute, sah er etwas, was noch nie ein Mensch vor ihm gesehen hatte: die über dem Mond aufgehende Erde. Ein blauer Flecken im Weltall, halb verdunkelt. Apollo 8 war die erste Weltraumkapsel, die den Mond umrundete. Der Flug war per­fekt organisiert, aber mit diesem Motiv, das unter dem Titel „Earthrise“ in die Geschichte eingegangen ist, hatte der Fotograf der Weltraummission nicht gerechnet.

Dass Bill Anders trotzdem auf den Auslöser der einzigen mit einem Farb­film ausgerüsteten Hasselblad ­Kamera an Bord drückte, hat unser Bild der Erde für immer verändert. Der von strahlendem Blau geprägte Heimat­planet hat sich in das Bewusstsein der Menschheit eingeschrieben. Nicht wenige sehen „Earthrise“ als den Beginn der Umweltbewegung, und immer wie­ der wird das Motiv von Apollo 8, Kassette 14/B, als das vermutlich einflussreichste Umweltfoto der Ge­schichte bezeichnet. Auch deshalb, weil es so klar und komprimiert wie nie zuvor zeigte, was die Erde einmalig macht: eine scheinbar unendliche Masse von Wasser.

Die Täuschung

Doch Bilder können auch in die Irre führen. Wäre die Erde ein Basketball, würde alles Wasser in einen Tischtennisball passen. Alle verfügbaren Süßwas­serressourcen wären nicht mehr als ein Popcorn. Und wäre das Wasser der Welt eine Badewanne, könnte man das erreichbare Trinkwasser in ein Schnaps­glas füllen. Süßwasserreserven bilden lediglich 2,53 Prozent des irdischen Wassers. Und nur 0,3 Prozent sind als Trinkwasser zu er­schließen.

Jack Cook vom Woods Hole Oceano­graphic Institute hat sich, zusammen mit den US­-Wissenschaftlern Adam Nieman und Howard Perlman, die be­kannten Wassermassen des Planeten vorgenommen und in eine Illustration übersetzt. Sie zeigt eine wasserlose Erde, und daneben schwebt eine Kugel durchs All, die das irdische Gesamtvor­kommen an Wasser – es sind 1,3 Mil­liarden Kubikkilometer – repräsentiert. Sie ist so klein, dass man die Illustra­tion schnell für einen Fake hält. Doch es stimmt. Zwar bedecken Ozeane, Seen und Flüsse über 70 Prozent des Globus, aber im Vergleich zur Masse an Gestein und anderen Stoffen macht das Wasser wegen des relativ geringen Tiefgangs der Gewässer dann doch einen recht kleinen Teil aus. Die Illu­stration zeigt ebenfalls die für Menschen, Tiere und Pflanzen lebensnotwendigen und potenziell erreich­baren Süßwasserreserven, das Popcorn – nicht ein­ gerechnet sind die zwei Drittel Süßwasser, die in den Gletschern und Polregionen gebunden sind. Mehr ist nicht da, um 7,5 Milliarden Menschen am Leben zu halten. Wird es auf Dauer reichen?

Es fällt leicht, sich im Nachdenken über das Wasser hoffnungslos zu verlieren. Auf der Erde hat es alles möglich gemacht. Es ist um uns, in uns, mit uns und für uns, wohin wir auch schauen. Im ganzen Univer­sum, überall Spuren von Wasser. Auf der Erde ist es die einzige Verbindung, die natürlicherweise in allen drei Aggregatzuständen vorkommt: als Eis, als Gas und als Flüssigkeit. Dass alles Leben aus dem Wasser stammt, ist Allgemeingut. Vor der Geburt schwimmt der menschliche Embryo in einer meeresgleichen Flüssigkeit. Sie besteht zu 96 Prozent aus Wasser. Der kindliche Körper besteht zu über 70 Prozent aus Wasser, im Laufe des Lebens dehydriert er dann auf rund 50 Prozent. Aber immer gilt: Ohne Flüssig­keit, ohne H2O findet kein Prozess im menschlichen Körper statt. Alle Zellen bestehen überwiegend aus Wasser, jeder Transport von Nähr­- und Abfallstoffen, der Blutkreislauf, die Drüsen, die Lunge, die Gelenke, die Augen – nichts im menschlichen Körper funktio­niert ohne Wasser.

Die Sintflut ist allgegenwärtig

Wasser, dieser Wunderstoff, ist dazu angetan, unsere Phantasie zu beflügeln und unseren Erkenntnisdurst zu löschen. Thales von Milet, dem man nachsagt, er habe in den Himmel geblickt und sei dabei in einen Brunnen gefallen, hat trotz seiner Tollpatschigkeit vor rund 2600 Jahren das Zeitalter des wissen­schaftlichen Denkens begründet. Da der Philosoph nichts Schriftliches hinterlassen hat, kann man nur spekulieren, wann und wie er zu der Überzeugung gekommen ist, dass alles Leben seinen Ursprung im Wasser habe. Vielleicht vor der Haustür, beim Blick über das 
herrliche Ionische Meer, vielleicht aber auch am feuchten Boden des Brunnens. Intuitiv lag er richtig. Und nicht weit entfernt von den großen Weltreligio­nen, die alle dem Wasser eine zentrale
 Bedeutung bei der Schaffung des Men­schen und der Natur zusprechen. Und das ist auch kein Wunder.

Menschliches Leben ist untrennbar mit dem Was­ser verbunden. Es ist existenziell. Vor zehntausend Jahren, als unsere Vorfahren ihre nomadische Exis­tenz gegen die Sesshaftigkeit eintauschten, siedelten sie dort, wo Süßwasser verfügbar war, an den Flüs­sen und Seen. Und damit wurde Wasser zum wich­tigsten Akteur im Drama des Überlebens. Denn Flüs­se können, wenn der Kreislauf von Verdunstung und Regen aus dem Takt gerät, austrocknen oder über die Ufer treten. Dürren und Fluten sind Urängste der Menschen, die ihren Eingang in fast alle Weltreli­gionen gefunden haben. Die Sintflut ist Thema der allerersten Überlieferungen, die wir von den frühen Zivilisationen im Zweistromland kennen. Die Epen der Sumerer gingen in die jüdischen, christlichen und islamischen Vorstellungen der Genesis ein. Indische, chinesische und selbst indianische Mythen verfügen über eigene Sintflut-­Erzählungen.

Wasser bedeutet Macht

In Roman Polanskis Film „Chinatown“ (1974), vor einigen Jahren noch von britischen Kritikern zum besten Kriminalfilm aller Zeiten gewählt, gräbt der Spekulant Noah Cross, gespielt von John Huston, den Farmen um Los Angeles das Wasser ab. Dann kauft er billig das Land und wartet darauf, dass die wach­sende Stadt es ihm teurer wieder abkauft. Das Dreh­buch, ursprünglicher Titel war „Wasser und Macht“, basiert auf den California Water Wars, die im frühen 20. Jahrhundert in der Heimat der Traumfabrik Hol­lywood zu Korruption, Verbrechen und dem Niedergang ganzer­ Täler führten. Bis heute ist das Thema Wasser in Kalifornien höchst kritisch. Zuletzt drückte eine seit 2011 dauern­de Dürre auf die Region, die nicht nur Hollywood, sondern auch das Silicon Valley beheimatet. Immer wieder sto­ßen hier die Interessen von Städtern, Farmern und Firmen aufeinander.

Gerade erst berichtete die „New York Times“ über das kleine Städtchen Weed (was für ein Name) in Nordkalifornien. Eine Holzfirma re­klamiert die Trinkwasserquelle der Stadt als ihr Eigentum und will nun das Wasser an eine Mineralwasserfabrik verkaufen. Die Bürger von Weed sollen sich ihr Wasser gefälligst woanders be­sorgen. Dabei gehören die USA zu den wasserreichsten Nationen der Welt, ei­gentlich sollte hier Wasser kein Problem darstellen. Eigentlich.

Kalifornien ist überall. Auch Hamburg liegt we­gen des Wassers im Clinch mit der Nordheide. „Water Wars“ hat sich als Begriff für eine Reihe von Konflik­ten etabliert, die weltweit vor sich hin köcheln. Die Meldungen hierzu häufen sich: Zwischen Indien und Pakistan, Tadschikistan und Kasachstan, Usbekistan und Turkmenistan, Jordanien und Saudi­ Arabien und in vielen anderen Weltregionen. Noch sind es meist kalte Kriege, die ihr gefährliches Potenzial zum Glück noch nicht voll ausleben. Schon 1985 prophezeite UN­-Generalsekretär Boutros Boutros­ Ghali: „Der nächste Krieg in Nahen Osten wird um das Wasser geführt, nicht aus politischen Gründen.“ Die Voraus­sage ist bekanntlich nicht eingetroffen, aber deshalb ist die grundsätzliche Prognose nicht falsch.

Trinkwasser als Grundrecht

Als in „Chinatown“ Detektiv J.J. Gittes (Jack Nichol­son) den Bösewicht Noah Cross fragt, was ihn zu sei­nen Verbrechen antreibt, bekommt er die Antwort: „Die Zukunft, Mr. Gittes, die Zukunft!“ Trinkbares Wasser ist Zukunft. Und auf dem Blauen Planeten ein knappes Gut. Laut UNICEF und der Weltgesund­heitsorganisation (WHO) haben derzeit 663 Millionen Menschen keinen Zugang zu sauberen Trinkwasserquellen und 2,5 Milliarden Menschen keine ange­messene Sanitärversorgung. An den daraus resultierenden Krankheiten ster­ben mehr Kinder als an Malaria, Masern und Aids zusammen. Der Wasserman­gel befeuert nicht nur Konflikte, er lässt Potenziale brachliegen, die für die Ge­staltung einer besseren Welt fehlen. Die Vereinten Nationen schätzen, dass Frauen weltweit mehr als 40 Mil­liarden Stunden damit verbringen, Wasser herbeizu­schaffen. Unzählige Mädchen gehen in den ärmsten Ländern nicht zur Schule, weil sie den ganzen Tag mit der Suche nach Wasser beschäftigt sind. Was für eine Verschwendung.

Die Vereinten Nationen haben 2010 die Resolution 64/292 verabschiedet, die den Zugang zu sauberem Trinkwasser und Sanitärver­sorgung als ein Grundrecht anerkennt. Die UN­-Entscheidung wird langfristig wirken und für mehr Engagement der Weltgemeinschaft sorgen. Ein Euro Investition in diesem Bereich, so die Bun­desregierung, kann das Bruttoinlandsprodukt in Ent­wicklungsländern um acht Euro steigern.

In Sachen Trinkwasser ist übrigens schon sehr viel passiert. Nach Schätzungen von UNICEF haben heute 91 Pro­zent aller Menschen Zugang zu sauberem Wasser, das sind 2,6 Milliarden mehr als noch 1990. Doch kaum gibt es Hoffnung auf der einen Seite, droht schon wie­ der eine ganz andere Gefahr: der Klimawandel. Mit dem Schmelzen der Eisschichten in Grönland und der Antarktis und mit der größeren Ausdehnung des Wassers in den sich erwärmenden Ozeanen steigt der Meeresspiegel unumkehrbar an. Und er bedroht die Orte, an denen sich die meisten Menschen ballen, die großen Megametropolen an der Küste: New York, Los Angeles, Rio, Mumbai, Shanghai, Hongkong, Tokio, Sydney, Lagos, Jakarta, Singapur und viele andere. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts ist der Meeresspie­gel bereits um 20 Zentimeter gestiegen. Die Gefahr, weite Teile dichtbesiedelter Küsten an das Meer zu verlieren, ist innerhalb bestimmter Korridore weit­gehend berechnet. Laut Weltklimarat steigt der Mee­resspiegel mit zunehmender Geschwindigkeit. Sie liegt derzeit bei über drei Millimetern pro Jahr, mehr als doppelt so schnell als zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Das ist eine Sint­flut im Zeitlupentempo, aber eine mit Ansage.

Hat ein neues Zeitalter begonnen?

Indem Menschen aber auch gelernt haben, mit Dürre und Flut zu überle­ben, hat sich eine Welt entwickelt, die sich nur scheinbar von ihren natür­lichen Bedingungen, oder sollte man sagen: Quellen, emanzipiert hat. Wis­senschaftler debattieren gerade hitzig darüber, ob wir bereits in einem neuen Erdzeitalter leben, dem Anthropozän.

Merkmal der „Menschenzeit“ ist, dass die Veränderungen auf dem Planeten nicht mehr durch natürliche Einflüsse, etwa Wind und Wasser, sondern durch menschliche Tätigkeit vorangetrieben werden. Dazu zählt auch die Ver­schmutzung und Zähmung der Flüsse, der Bau von Bewässerungskanälen über Hunderte von Kilome­tern, die Auszehrung von Grundwasservorkommen und Aquiferen, die gewaltige Urbanisierung mitsamt ihrer Infrastruktur, am Ende auch der Klimawan­del mit dem Verlust von Gletschern und Küsten. Für Deutschland ist die vom Menschen verursachte Grundwasserverschmutzung das größte Problem – in einem Drittel der Bundesrepublik durch Nitrate, im Ruhrgebiet durch das Erbe des Bergbaus.

Während die Zivilisation also Stück für Stück den Planeten überformt, bleibt das Wasser – wie zu allen Zeiten – ein kritischer Aspekt. Es bleibt das Medium des Seins und des Werdens, aber auch ein Katalysa­tor der Erkenntnis und eine ständige Mahnung an die Riskanz des Lebens. Oder wie Bill Anders gesagt hat: „Oh mein Gott, schaut euch das an!“

Autor: Torsten Meise

Aus: Chancen, das Magazin der KfW, Ausgabe 2/2016

Agentur: Behnken & Prinz, Hamburg