
Die meisten Metropolen sind heute auf der Suche nach Wegen aus dem Dauerstau mit all seinen Belastungen. Alternative Verkehrskonzepte werden an vielen Stellen getestet. Doch kaum eine andere Stadt ist so erfahren damit und auch schon so weit wie London. Die britische Hauptstadt muss jeden Tag vier Millionen Pendler bewältigen. Ab neun Uhr morgens sind die meisten Städte im Randgürtel entvölkert, weil die Hälfte ihrer Bewohner im Zentrum arbeitet. Mit dem Crossrail-Projekt baut London derzeit eine völlig neue Bahnlinie quer durch die Stadt, in weiten Teilen unter der Erde. Welche Erwartungen, aber auch welche technischen Herausforderungen mit dem größten europäischen Infrastrukturprojekt verbunden sind, habe ich versucht, in diesem Text zu beschreiben.
Dieser Beitrag erschien im Hochtief-Kundenmagazin concepts, Ausgabe 1/2015
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Neue Mobilität
Zeitenwende in der Verkehrspolitik: Immer mehr Metropolen wollen den Autoverkehr aus den Innenstädten verdrängen und nachhaltige Mobilität fördern. Platz für neue Verkehrswege gibt es aber oft nur noch unter der Erde. Mit seinem Know-how im Tunnelbau ist HOCHTIEF bereits heute an vielen wegweisenden U-Bahn-Projekten beteiligt.
7.42 Uhr, Bahnhof Henley-on-Thames. Auf dem Bahnsteig der hübschen Schlafstadt vor den Toren Londons drängen sich mehrere hundert Pendler in den Zug nach Paddington. Rund 60 Minuten dauert die Fahrt in die Londoner Innenstadt. Seit die Immobilienpreise in der britischen Hauptstadt explodieren, ziehen die Menschen auf der Suche nach bezahlbarem Wohnraum immer weiter in die Peripherie. Arbeiter und einfache Angestellte sitzen nicht selten viele Stunden am Tag in Zügen und Bussen, weil ihr Arbeitsweg 100 oder mehr Kilometer lang ist.
Etwa die Hälfte der Passagiere, die jetzt im Zug nach Paddigton ihrer Arbeitsstelle entgegenfahren, absolviert die Fahrt im Stehen. Auch dies ist nichts Ungewöhnliches. Der 7.42-Uhr-Zug ist nämlich nach offiziellen Zahlen der überfüllteste Pendlerzug Londons. Aber bei Weitem nicht der einzige. Wenn London erwacht, kommen fast alle öffentlichen Verkehrsmittel der Metropole an ihre Grenzen.
Geschätzte vier Millionen Menschen verlassen morgens ihren Wohnbezirk und machen sich dann auf den Weg zu ihrem Arbeitsplatz. Alleine 867 000 treibt es in den zentralen Stadtteil Westminster und die benachbarte City of London, in der das Herz der britischen Wirtschaft schlägt, die Finanzindustrie. Nimmt man den Nachbarbezirk Tower Hamlets mit seinem Canary-Wharf-Komplex noch hinzu, sind es eine glatte Million – und damit drei Mal so viele wie etwa in Frankfurt.
Der wirtschaftliche Erfolg der Metropole London hat schon immer Verkehrsprobleme verursacht. London war im 19. Jahrhundert die reichste und modernste Stadt der Welt, und die Themse ihr erster Superhighway. Große Schiffe brachten die Waren aus allen Ecken des britischen Weltreichs den Fluss hinauf, kleine Schiffe und Pferdekarren verteilten sie weiter. Um schneller von einem zum anderen Ufer zu gelangen, zirkulierten um 1800 die ersten Ideen, einen Tunnel unter der Themse zu bauen. Doch es bedurfte des französischen Ingenieurs Marc Isambard Brunel und seines Sohnes Isambard Kingdom Brunel, die weltweit erste Unterquerung eines Flusses tatsächlich zu realisieren. 1843 eröffnet, war der Thames Tunnel ein achtes Weltwunder – zumindest für die frühen Touristen. Denn ausgelegt als reiner Fußgängertunnel, war dem Thames Tunnel kein echter Erfolg vergönnt. Er wurde schon bald verkauft und 25 Jahre später in einen Eisenbahntunnel umgewandelt. Denn 1863 nahm die nächste Verkehrssensation in London ihren Ursprung: die U-Bahn. Die Metropolitan Railway und heute Metropolitan Line war die erste unterirdische Bahnstrecke der Welt und eine Lösung für innerstädtische Verkehrsprobleme, die bis heute wegweisend ist.
Rund 150 Jahre später hat sich an den Verkehrsproblemen nur wenig verändert: Zu viele Autos, zu viele Pendler und kein Raum mehr für immer neue Straßen und Autobahnen haben London zu Beginn des neuen Milleniums wieder einmal an die Frontlinie der Verkehrspolitik gerückt. Mit der City Maut hat London 2003 damit begonnen, das Auto von der Innenstadt fernzuhalten. Um rund 30 Prozent ist der Verkehr seither dort zurückgegangen. Gleichzeitig hat die Stadt neue Verkehrskonzepte entwickelt, in denen Fahrradfahrer eigene Schnellwege und der öffentliche Personennahverkehr noch größeres Gewicht erhalten sollen. Bürgermeister Boris Johnson hat die „Cycling Revolution“ und das neue Verkehrskonzept zu seinen Leuchtturmprojekten erkoren. Und seine Stadt zieht mit. Die Archtitekten von Sir Norman Foster zeichnen Radwege, die oberhalb von Bahnlinien verlaufen, andere wollen mautpflichtige Rad- und Fußwege auf der Themse schwimmen lassen. In den Gemeinden Westminster und Lambeth wurde gerade der Bau einer Themse-Brücke in Höhe der U-Bahn-Station Temple beschlossen, auf der Fußgänger durch einen dicht bepflanzten Garten wandeln werden. Die „Garden Bridge“ soll ein Zeichen setzen, um London zur „fußgängerfreundlicheren und lebenswerteren Metropole machen“, wie Bürgermeister Johnson sagt.
Das größte Verkehrsprojekt Londons findet sich derzeit jedoch dort, wo die Briten ihre Pionierarbeitet bereits vor über 170 Jahren geleistet haben: unter der Erde. Das sogenannte Crossrail Projekt ist mit einem Umfang von 19 Mrd. Euro das teuerste Infrastrukturvorhaben, das derzeit in Europa zu finden ist. Gebaut wird eine neue Bahnlinie quer durch die Metropolregion: von Shenfield und Abbey Wood im Osten bis nach Reading im Westen. Eine zusätzliche Abzweigung schließt den Flughafen Heathrow endlich vernünftig an das Stadtzentrum an. Die neue, 118 Kilometer lange Bahnlinie verbindet die Randgebiete mit der Londoner City und allen wichtigen innerstädtischen Knotenpunkten. Crossrail beschäftigt 10 000 Ingenieure und Bauarbeiter und wird 1,5 Millionen Menschen neu an das Schienennetz anbinden. 40 Bahnhöfe und 42 Kilometer Tunnel wachsen derzeit unter London zusammen.
Eines der anspruchsvollsten Tunnelvorhaben realisierte das Joint Venture HMJV, das zu gleichen Teilen aus der britischen J. Murphy & Sons sowie der HOCHTIEF besteht. Weil das Erdreich unter der Themse extrem wechselhaft und feucht ist und dort ein hoher Wasserdruck herrscht, gilt der 2,6 Kilometer lange Abschnitt zwischen Plumstead und North Woolwitch als der risikoreichste unter den Crossrail-Tunneln.
Die HOCHTIEF-Ingenieure mussten das Design aller Bauelemente darauf ausrichten, etwa bei der Materialmischung der Tübbinge. Sie planten zudem Fluttore ein, denn im Fall eines Wassereinbruchs hätte sonst die gesamte Baustelle überflutet werden können. Zum Glück wurden die Tore nicht benötigt. „Wir haben zwei sehr, sehr trockene Tunnel gebaut, aber auch mit heutiger Technologie ist eindringendes Wasser eine ständige Herausforderung“, sagt HOCHTIEF-Projektleiter Riku Tauriainen.
Die unterirdischen Verbindungen enststanden in nur 16 Monaten. Wesentlichen Anteil daran hatten Mary und Sophia, die für je 14 Millionen Euro speziell angefertigten Tunnelbohrmaschinen. Mit einem Außendurchmesser von 7,10 Metern und einer Länge von 110 Metern frästen sie sich souverän durch den Untergrund aus Sand und Kreide. „Den Tunnel-Teams gebührt höchste Anerkennung für dieses schnelle und sichere Arbeiten“, lobte Andrew Wolstenholme, Geschäftsführer der Crossrail-Projektgesellschaft.
Einen der spannendsten Augenblicke des Tunnelprojektes hatte das Teams dabei gleich in einer frühen Phase des Vortriebs überstanden. Am Südufer der Themse mussten die neuen Röhren oberhalb einer bestehenden Bahnlinie gebohrt werden. Der Abstand der gewaltigen Bohrmaschinen zum vorhandenen Tunnel betrug nur zwei Meter. „Das war ein heikler Punkt, da haben alle die Luft angehalten“, erinnert sich Tauriainen. Aber auch diese Passage glückte wie geplant.
Im Sommer 2015 werden HOCHTIEF und Murphy die restlichen Arbeiten um das Teilstück fertigstellen. Die Puzzleteile des Crossrail-Projekts werden dann Stück für Stück verbunden. Auf der Strecke von Abbey Wood nach Paddington, für die HOCHTIEF den Themse-Tunnel gebohrt hat, soll der planmäßige Betrieb im Dezember 2018 beginnen. Ende 2019 werden dann wohl alle geplanten Crossrail-Strecken aktiv sein.
Aus- und Umbau der Verkehrsnetze gelten als ein Schlüsselfaktor für die Entwicklung von Großstädten. Mobilität ist dabei mehr als nur der Versuch, morgens pünktlich zur Arbeit und abends wieder in den Vorort zu gelangen. Angesichts regelmäßiger Staus, fehlender Parkplätze und verschmutzter Luft hat in vielen Metropolen ein Kulturwandel begonnen. Der Besitz eines eigenen Autos gilt nicht mehr unbedingt als erstrebenswertes Ziel. Vor allem junge Menschen in Großstädten verzichten auf das Statussysmbol und greifen lieber auf Carsharing-Angebote zurück. Neue Verteilungskämpfe um Straßenraum brechen aus. Die schnell wachsende Gruppe der Radfahrer betont immer selbstbewusster die Vorteile des Zweirads und verlangt mehr Raum und mehr Schutz im Straßenverkehr. Der Trend, von der Stadt in die Vororte oder in die Speckgürtel zu ziehen, kehrt sich an vielen Stellen um. Zentrumsnahe Stadtviertel boomen, auch wenn die Mieten hier besonders hoch sind. Orte im ländlichen Umland hingegen verlieren an Attraktivität, vor allem wenn sie nicht an das Schienennetz angeschlossen sind.
Die neue Verkehrspolitik in London, die auf mehr Schienenverkehr und alternative Verkehrskonzepte setzt, hat deshalb Signalcharakter. Die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo etwa hat jüngst Pläne für eine massive Einschränkung des motorisierten Individualverkehr in der französischen Hauptstadt angekündigt. Die vier zentralen Arrondissements werden zu „Halbfußgängerzonen“ umgestaltet. In Zukunft sollen dort nur noch Busse, Fahrräder, Taxis, Lieferwagen, Rettungsfahrzeuge und Anwohner-Pkw verkehren dürfen. Im historischen Zentrum Roms gilt ein solches Fahrverbot schon lange. In Madrid sind seit Anfang 2015 3,5 Quadratkilometer der Innenstadt nur noch für Anwohner mit dem Pkw befahrbar. Viele skandinavische Städte haben Maut-Zonen eingerichtet, etwa Stockholm, Oslo, Bergen und Trondheim. Bologna und Mailand fordern in Italien Geld für das Befahren ihrer Innenstädte.
Voraussetzung für diese neue Verkehrspolitik ist eine gute Qualität des öffentlichen Nahverkehrs. Je mehr Bahn- und Buslinien vorhanden sind, desto leichter fällt der Verzicht aufs Auto. Für neue Infrastruktur, vor allem von Schienenverbindungen, gibt es über der Erde jedoch kaum noch Platz. Dem Crossrail-Projekt in London könnten deshalb schon bald viele Nachahmer folgen. Ein neuer Boom bei U-Bahnen bahnt sich an, was sich auch im Projektportfolio von HOCHTIEF niederschlägt:
- Im Hamburg hat HOCHTIEF zwischen 2011 und 2013 den ersten Abschnitt der neuen U-Bahn-Linie 4 gebaut. Zwei spektakuläre Bahnhöfe erschließen die neue HafenCity. Mittlerweile hat die Stadt beschlossen, ab 2022 mit der U5 eine weitere, völlig neue 28 Kilometer lange U-Bahn-Linie quer durch die Stadt zu graben, um die Verkehrsprobleme der Stadt in den Griff zu bekommen.
- In Nürnberg realisiert HOCHTIEF Infrastructure bereits den dritten Auftrag an der Linie U3. Im sandsteinigen Untergrund entstand ein Tunnel von 1,1 Kilometer Länge. Zu der Trasse gehören auch zwei Bahnhöfe sowie eine Wendeanlage. Die U3 ist die erste vollautomatisierte U-Bahn Deutschlands und wird deshalb von den Nürnbergern liebevoll „Geisterbahn“ genannt.
- An der New Yorker Upper East Side, unweit des Central Parks, baut die HOCHTIEF-Tochter E.E. Cruz den Untergrund-Bahnhof 96th Street. Das Bauwerk wurde vom US-Magazin Engineering News-Record (ENR) zu einem von New Yorks besten Projekten 2014 gekürt. Die 96th Street Station ist Teil einer völlig neuen Line. Die bestehende, parallel verlaufende U-Bahn zählt mit täglich 1,3 Millionen Passagieren zu den meistgenutzten in den USA.
- In Kopenhagen hat HOCHTIEF Infrastructure den Auftrag bekommen, das neue Stadtviertel Nordhavn an das Metronetz der Stadt anzuschließen. Eine neue U-Bahn-Verbindung und ein Bahnhof sind hierzu notwendig. Sie ist Teil des neuen Cityrings, einer insgesamt 15,5 Kilometer langen U-Bahn. Nordhavn gilt als größtes städtebauliches Projekt in Nordeuropa. Neue Flächen werden mit dem Aushub der Metro aufgeschüttet.
Der skandinavische Markt gilt bei Verkehrsprojekten als besonders anspruchsvoll und progressiv. Vor allem Kopenhagen ist ein Vorreiter beim Umbau der Verkehrsinfrastruktur und wird auch von London und anderen Großstädten intensiv beobachtet. Für 2015 hat sich die dänische Hauptstadt vorgenommen, dass die Hälfte aller Bürger per Rad zur Arbeit oder zur Ausbildung fährt. Neue Radfahrerbrücken durch den Hafen und ein weltweit bewundertes Radwegenetz sind beste Voraussetzungen dafür. Der Ausbau der unterirdischen Verkehrsinfrastruktur, der Cityring, ist das komplementäre Element, das mit der gleichen Energie vorangetrieben wird.
„Kopenhagenisierung“ ist bereits ein fester Terminus unter Stadtplanern, wenn es darum geht, Städte weniger autogerecht, dafür aber lebenswerter und nachhaltiger zu machen – Ziele, die sich mittlerweile alle Metropolen auf ihre Fahnen geschrieben haben. Dafür notwendig ist jedoch auch, das zeigen die Dänen eindrucksvoll, ein Bewusstseinswandel. Nur ein Beispiel: Wenn es in Kopenhagen schneit, werden zunächst die Radwege geräumt, dann erst die Straßen. Ganz so weit sind London und andere Metropolen noch nicht.
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